„Die meisten leben nicht, sondern existieren nur mehr: sei es als Sklaven des Berufs, sei es als Sklaven des Geldes, sei es endlich als Sklaven großstädtischen Zerstreuungstaumels. In keiner Zeit noch war die Unzufriedenheit größer und vergiftender.“ So klagte der Philosoph und Psychologe Ludwig Klages (1872-1956) im Jahre 1913 unter dem Eindruck der Arbeitssituation seiner Zeit.
Die typische Arbeitskraft unserer Zeit hat in den letzten Jahrzehnten eine stete Aufwertung erfahren. Zusätzlich zu sozialen Errungenschaften haben sich technologische Wandlungsprozesse eingestellt: Alle möglichen Handgriffe und sogar komplizierte Geschäftsvorgänge werden heute zunehmend selbständig von Maschinen ausgeübt. Künstliche Intelligenz, Robotik und Automatisierungsprozesse verändern die Anforderungen an den Arbeiter aus Fleisch und Blut. Dieser typische Arbeiter des neuen Zeitalters bringt vor allem Wissen und idealerweise seine eigenen Innovationen mit an den Tisch. Er hat sich vom Roboter im eigentlichen Wortsinn zur qualifizierten Fachkraft emanzipiert.
Mit diesem Sprung ging naturgemäß auch ein Salto in die Eigenverantwortlichkeit einher. Man findet sich als Arbeitnehmer nun in einer Situation wieder, in der es mehr und mehr um die Mitgestaltung der eigenen Arbeitsverhältnisse geht: Die persönliche Entfaltung im Beruf, seine Verträglichkeit mit Familie und Privatleben und die Möglichkeit, sein fachliches Potential voll auszuschöpfen, sind nur einige der modernen Prämissen im Berufsleben. All ihre Komponenten haben sich bereits vor Jahren als wesentlich vom Wie und Wo der Arbeitszeit abhängig erwiesen. Scopevisio möchte Sie im Folgenden an die Möglichkeiten und die Herausforderungen, aber auch an die Probleme der neuen Arbeitszeitmodelle heranführen.
Die Debatte der Arbeitszeitmodelle und ihr Prämissenwechsel
In der Diskussion um die Arbeitszeit ging es lange vor allem um ihre Dauer und ihre Lage: ‚Wie viele Stunden muss ich arbeiten und werden meine Überstunden verringert?‘ bzw. ‚Welche Risiken sind etwa mit meiner Schicht- oder Nachtarbeit verbunden?‘ Bald aber trat der Ruf nach Flexibilisierung der Arbeitszeit in den Fokus der Debatte: Wie soll und kann die Arbeitszeit – vom Arbeitsanfall abhängig – verteilt werden?
Besonders die Investitionsgüterindustrie ging den anderen Sektoren voran. Bereits Ende der 1990er Jahre hatten dort über die Hälfte aller Unternehmen flexible Arbeitszeitmodelle eingeführt, die sich nach den vom Kunden abgeforderten Kapazitäten richteten.
Neue Arbeitszeitmodelle in der Digitalisierung
Die Digitalisierung hat nicht nur die rein zeitliche, sondern auch die örtliche Komponente der Arbeitszeit beeinflusst: Für viele Arbeitnehmer sind die Arbeitsmittel fast rund um die Uhr verfügbar. Manch einer könnte praktisch seine gesamte Arbeit von zuhause aus erledigen. Die Anwesenheit am nominellen Arbeitsplatz scheint – dank moderner Arbeitszeitmodelle – für ein produktives Schaffen häufig nicht mehr nötig. Wo kultureller Wandel und strukturelle Umbrüche einen Weg finden, mehr und mehr von zuhause aus zu arbeiten, finden sich selbstredend auch Möglichkeiten, seinen Job unter der tropischen Sonne zu erledigen. Revolutionäres Aushängeschild dieser Praxis sind die digitalen Nomaden auf Bali.
Vor allem Freiberufler und Start Up-Gründer (im Wesentlichen aus Europa, Nordamerika und Australien) nutzen die einladenden Bedingungen im Urlaubsparadies. Beim Thema Visum stellen sich zwar häufig Fragen, doch lassen sich diese in aller Regeln klären (ohne viel Bürokratie). Die Lebenserhaltungskosten im Lieblingsziel für digitale Nomaden bringen es mit sich, dass man nicht unter dem selben Leistungs- und Erfolgsdruck hat wie andernorts: Gerade für Anfänger und Neueinsteiger sind das ansprechende Verhältnisse. In Internetcafés oder anderen Orten, wo man Arbeitsplätze (meist) stundenweise mieten kann, treffen Menschen aus verschiedenen Branchen mit verschiedenen Arbeitsbereichen und Qualifikationen zusammen. So entsteht im Idealfall eine Coworking-Athmosphäre unter paradiesähnlicher Umgebung. Allerdings warnen die digitalen Nomaden davor, ihr Treiben auf Bali mit einem immerwährenden Urlaub zu verwechseln, der nebenbei noch ein Gehalt herausspuckt. Viele berichten, tatsächlich mehr zu arbeiten als früher. Jedoch sei dieses Maß der Arbeit leichter zu genießen, da sich für die meisten Nomaden die freie Gestaltung und die Unabhängigkeit ihrer Werktätigkeit neben die klimatischen Annehmlichkeiten gesellt.
Neue Konzepte für Arbeitszeitmodelle
So mannigfaltig die Anforderungen des Lebens sind, so vielschichtig sind dabei die Modelle einer neuen Generation der Teilzeit. Viele davon wurden bereits in den späten 90ern erstmals erprobt. Heute finden bereits die verschiedensten Entwürfe Anwendung: Arbeitsplätze etwa werden an zwei Personen gleichzeitig vergeben (Desk-Sharing), die sich Arbeit und Anwesenheit selbständig untereinander aufteilen. Oder es wird ein Arbeitszeitvolumen für einen bestimmten Zeitraum festgelegt, in dem der Mitarbeiter Dauer und Lage seiner Arbeit frei wählen kann. Das sind nur zwei Konzepte von vielen, die am Ende doch dasselbe Ziel verfolgen: Die Produktivität im Sinne des Unternehmens leidet idealerweise nicht, die Angestellten dagegen haben mehr Zeit für jobunabhängige Dinge und zeigen sich dafür umso motivierter bei der Arbeit.
…bei der Telekom
Die Deutsche Telekom etwa hat in den letzten Jahren langristige Planungen zur Umsetzung des Desk-Sharings in die Wege geleitet. Im Jahr 2014/15 wurde das Ziel einer Quote von zehn Schreibtische für 13 Angestellte. Gleichzeitig baut sie verstärkt auf die Möglichkeiten des Home Office. Dies geschieht allerdings nicht nur aus selbstlosem Wohlwollen der arbeitenden Bevölkerung gegenüber: Zentralisierungsmaßnamhmen des Unternehmens machen angesichts sich ändernder Anfahrtswege aus der Heim- bzw. ‚Telearbeit‘ eine bequeme oder sogar nötige Alternative. Ein Recht auf Heimarbeit ist durch solche Fälle in die Diskussion der Arbeitszeit eingerückt.
…bei den ‚Suchmaschinen‘
Auch Google wirbt intensiv auf Jobs im Home Office. Gerade gegenüber Traditionsunternehmen wie der Telekom sieht sie sich bei der Anwerbung junger Arbeitnehmer häufig im Vorteil. Dennoch setzt ein Technologiekonzern wie Google immer noch darauf, seine Angestellten durch angenehme Verhältnisse am Arbeitsplatz möglichst im Büro zu halten. Aus gutem Grund, möchte man meinen: Konkurrent Yahoo hat 2013 seine Heimarbeiter zurück ins Bero gerufen, um die produktive Zusammenarbeit über persönlichen Kontakt zu garantieren (vgl. unten). Überhaupt zeigt sich trotz der Beliebtheit dieser Konzepte ein Trend der Unternehmen, wieder verstärkt auf Büroarbeit zu setzen.
…oder bei der BASF
Eine konsequente Unterscheidung zwischen Heimarbeit und mobiler Arbeit hat die BASF Ludwigshafen durchgesetzt. Sie definiert Heimarbeit als Tätigkeit, bei der der Arbeitnehmer seinen Job von zuhause aus erledigt. Ins Büro kommt er nur in Ausnahmefällen wie Besprechungen. Der Arbeitsplatz in den eigenen vier Wänden wird vom Arbeitgeber eingerichtet. Beim mobilen Arbeiten dagegen arbeitet der Angestellte wahlweise von zuhause von von unterwegs aus. Allerdings muss er sich seinen Arbeitsplatz (=Stuhl und Schreibtisch) selbst finanzieren.
Die neuen Arbeitszeitmodelle: Aufteilung oder Zersplitterung der Arbeitszeit?
Oberflächlich betrachtet handelt es sich um lautere Methoden, den Lebenspart Arbeit für alle Parteien optimal zu gestalten. Dennoch stieß die Grundidee schon früh auf Kritik bezüglich ihrer möglichen Folgen.
Zersplitterte Rechtslage durch ‚zu viel‘ Freiheiten?
Da wirtschaftsliberale Ideale auch in modernen Zeiten ihre Grenzen haben, müssen letztlich auch die Arbeitszeiten gesetzlich irgendwie geregelt sein. Das klingt nach Bevormundung, dient aber gegebenenfalls auch dem Arbeitnehmer und seinem Schutz. Befürchtungen stehen im Raum und gelten einem Klima allzu unabhängiger und betriebsinterner Regelungen in Unternehmen – trotz aller vermeintlichen Vorteile für den Arbeitnehmer: In der Praxis könnte die gesetzliche Kontrolle und Ahndung möglicher Schäden des Arbeitnehmers erschwert werden. Im Home Office bin ich als Arbeitnehmer meistens bezüglich Gesundheit und Sicherheit abgesichert. Im mobilen Arbeiten kann es da ganz anders aussehen. Die Folgen weiterer Liberalisierungen bezüglich der Arbeitszeitmodelle für die Gesetzeslage sind noch nicht abzusehen. Eine auch zum Wohl des Arbeitnehmers vollzogene Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse – so auch der Arbeitszeit und ihrer Komponenten – darf nicht dazu führen, dass dem Gesetz die rechtliche Handhabe etwa im Falle der Ausnutzung oder anderweitigen Schädigung des Arbeitnehmers entgleitet.
Individuelle Entfaltung oder Teamwork?
Bedenken gibt es auch bezüglich der erhofften und tatsächlichen Auswirkungen einer mehr oder weniger frei gestaltbaren Arbeitszeit. Erfahrungsberichte sind häufig positiv, was aber auch der subjektiven Wahrnehmung der Betroffenen geschuldet sein kann. Das darf aber nicht über mögliche Negativfolgen im Einzelfall hinwegtäuschen. Fragen kommen auf: Garantiert eine traditionellere Betriebsatmosphäre nicht vielleicht eher einen reibungslosen Arbeitsablauf als eine möglicherweise allzu ‚zersplitterte‘ Anwesenheit der Belegschaft? Wenn ich zu stets starren Zeiten tagein, tagaus immer mit denselben Gesichtern arbeiten muss – das kann auf Dauer natürlich Empfinden und Leistung belasten. Anderseits sind gerade heutzutage viele Betriebe (zumindest offiziell) weniger linear hierarchisierte Fabriken, sondern vergleichsweise mutual strukturierte Arbeitsgemeinschaften, in denen jeder seinen Input bringen, seinen Beitrag leisten muss, damit die Sache funktioniert. Bedenken scheinen nicht ganz ungerechtfertigt, dass manche neue Arbeitszeitmodelle dabei die häufig erforderlichen Leistungen des Teams erschweren könnten, wenn das Team als solches durch vermeintlich moderne Konzepte nicht mehr wirklich besteht.
Fortschritt für alle…oder wirklich alle?
Überhaupt weisen die Ideen des Neuen Arbeitens, und darin auch der neuen Arbeitszeitmodelle, häufig einen gedanklichen (wenn auch nachvollziehbaren) Fehler auf. Die jüngere soziale Geschichte unserer Breiten hat einen Fokus auf den vermeintlich Schwachen, den einzelnen Arbeitnehmer, fast schon erzwungen. Konsequenterweise sind die neuen Modelle vor allem auf das Wohl des Menschen hinter dem Arbeitnehmer hin konzipiert. Eine erhöhte oder zumindest nicht in Nachteil gezogene Produktion des Betriebes erscheint dabei eher als positiver Nebeneffekt der Umstrukturierung. Dabei gerät der Zweck eines Unternehmens nicht selten in Vergessenheit. Auch die Führungskräfte eines Betriebes sind Menschen und zudem für das Funktionieren des Unternehmens verantwortlich. Hinter Erfolg oder Scheitern einer Firma darf nicht nur der angenehme Job des Arbeitnehmers, sondern muss auch die ökonomische Existenz des Arbeitgebers stehen.
Der Spagat zwischen dem Für und dem Wider
Die Digitalisierung mag eine Form der Kommunikation über größere Entfernungen ermöglichen. Für den Einzelnen kann eine Flexibilität der Arbeitszeitkomponenten zumindest eine gewisse Entlastung bzw. Bequemlichkeit bringen. Für die Leiter, die Verantwortlichen eines Unternehmens sind damit aber Risiken verbunden, die nicht immer mit den Anforderungen des Betriebes vereinbar sind. Diverse Probleme sind bereits in die Diskussion eingeflossen. So ergibt sich in vielen Fällen ein deutlich erhöhtes Fehlerrisiko bei einer größeren Anzahl an Arbeitsübergaben: Je mehr Personen theoretisch und faktisch abwechselnd mit bestimmten Projekten und Aufgaben vertraut werden, umso schwieriger gestaltet sich der Aufbau von Erfahrung und Routine. Die Erfüllung der Arbeit und die Qualität der erbrachten Leistung können darunter leiden. Diese Leistung kann in alten wie in neuen Konzepten stets nur durch die adäquate Qualifikation des jeweiligen Arbeitnehmers erzielt werden. Gerade in neuen Modellen ist dabei eine ausgeprägte Spezialisierung der eigenen Fertigkeiten ein häufiges Erfordernis. Der Wettlauf mit den sich rasant erweiternden Forderungen der digitalen Arbeitswelt auf der einen Seite sowie das Abweichen von traditionellen Bedingungen von Einteilung, Ort und Lage der Arbeitszeit auf der anderen können dabei aber für das Unternehmen schnell zu höheren Weiterbildungs- bzw. Lohnnebenkosten führen. Ein ursprünglicher Zweck der Flexibilisierung der Arbeitszeit war dabei doch eigentlich gewesen, zum Beispiel über das Reduzieren bzw. Streichen von Überstunden Kosten zu sparen – ebenso etwa über die Anpassung der Personalkapazitäten an die tatsächlichen Kundenabforderungen.
Fortschritt – eine Sache der Wechselseitigkeit
Die Zersplitterung der Arbeitszeit in einem Unternehmen kann wie gesehen einen höheren Abstimmungsaufwand bei der Arbeitsorganisation mit sich bringen: Teamarbeit ist heutzutage meist unerlässlich für das Funktionieren des Betriebes und das erfolgreiche Abwickeln der anfallenden Arbeiten. Durch die Zersplitterung der Arbeitszeiten wird von vielen Verantwortungsträgern ebenso eine Zersplitterung der Teams befürchtet. Die damit verbundene Steigerung des Koordinationsaufwands für die Führungskräfte – von der Frage nach dem weiteren Funktionieren der Arbeitsabläufe ganz zu schweigen –ist ein zusätzliches wie wesentliches Risiko der neuen Strukturen, das am Ende beide Parteien betreffen kann.
Zusammenfassung
Flexibilität im Leben; gegebenenfalls mehr Abwechslung im Job; mehr Zeit für andere Dinge – so ungefähr sieht das Ideal neuer Arbeitszeitstrukturen aus der Sicht des Arbeitnehmers aus. Gewisse Ansprüche aber, etwa was Schutz und Recht am Arbeitsplatz angeht, können jedoch nur durch rechtliche Verankerung gewährleistet werden. Inwiefern die staatliche Handhabe bei allzu ‚liberal‘ gestalteten Arbeitszeitbedingungen existieren kann, stellt dagegen gegebenenfalls ein Problem für den Arbeiter dar.
Kosten sparen; zufriedene und somit produktive Mitarbeiter beschäftigen; effektives Arbeiten ermöglichen. So sieht wiederum das Idealbild aus Sicht eines Unternehmens aus. Zusammenfassend lässt sich allerdings sagen, dass nicht alle Tätigkeiten mit dem den neuen Arbeitszeitmodellen meist zugrundeliegenden Prinzip der Teilzeit gleich effizient erledigt werden können. Das Wohl des Arbeitnehmers darf nicht Funktion und Produktion des Unternehmens gefährden und damit das Scheitern der Arbeitgeber riskieren.
Fazit
Die Ideen des Neuen Arbeitens, darin eingebettet die Gestaltung neuer Arbeitszeitmodelle, entstehen meist in bester Absicht: Das wirtschaftliche Gedeihen der Unternehmen mit der privaten Erfüllung des Arbeitsnehmers zu vereinen. Wie in vielen Bereichen der Innovation innerhalb eines Kulturwandels sieht man sich jedoch mit Risiken und Problemen konfrontiert: Lassen sich die hochgesteckten Ziele tatsächlich in einer produktiven und bereichernden Form verwirklichen? Ist dieser Wandel realisierbar? Oder wird die harte Realität ein Scheitern progressiver Ideale herbeiführen und zumindest partiell eine Rückkehr zu mehr konservativen Modellen einfordern?
<!– [if lte IE 8]>
<![endif]–> hbspt.cta.load(1889922, ‚8b57939a-f55e-44ae-88e1-dc72c6468e2a‘, {});